Angst unterm Mikroskop #1 – Definition und geschichtliche Hintergründe


Wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst.

Martin Heidegger (1889-1976)



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Begriff und Definition der Angst


Der Begriff entwickelte sich bereits im 8.Jh. aus dem indogermanischen anghu - „beengend“ über das altdeutsche Wort angust hin zu „Angst“.

Das Wort Angst ist verwandt mit dem lateinischen augustus bzw. augustia - „Enge/bedrängen“ (aus dem sich auch der heutige Begriff Angina entwickelte) und angor - „würgen“.

Evolutionär gesehen ist die Angst eine Warn- und Schutzfunktion, die zur Flucht und aktiver oder passiver Vermeidung von Schmerz und Tod dient.

Man unterscheidet dabei die Gefühlsregungen Angst - angor und Furcht - timor, die bei Bedrohung und der dadurch entstehenden Verunsicherung entstehen.

Dabei beschreibt die Angst eher das Gefühl, welches diffus und gegenstandslos ist und nicht zu einer konkreten Handlung führt.

Die Furcht richtet sich dagegen auf ein konkretes Objekt bzw. eine bestimmte Situation, die zum Handeln führt. Furcht schärft die Sinne und erhöht die Körperkraft um ein angemessenes Verhalten zu ermöglichen – Fight or Flight. [1]

Auch grenzt sich Angst von der Persönlichkeitseigenschaft Ängstlichkeit ab. Diese Unterscheidung hat der Professor für Psychologie Charles Spielberger 1966 erstmals in Studien untersucht und veröffentlicht. [2]



"Was ist Angst, und woher Kommt sie?"


Diese Frage beschäftigt die Menschheit über Jahrhunderte. Antworten passten oft in die jeweilige Zeit, deren Gesellschaften und den persönlichen Umständen der „Forscher“.


Reise durch die Kulturgeschichte der Angst

16. – 4. Jahrhundert v. Chr.


Im antiken Griechenland wurde die Angst immer nur auf ein konkretes Objekt bezogen. Vermutlich hat das römische Weltreich maßgeblich an der Entstehung der neueren Erscheinung "Weltangst" mitgewirkt. Historische Generalisierungen haben allerdings nur eine begrenzte Aussagekraft, da die psychische Komponente durchaus individuell verschieden ist.

Aristoteles bezeichnete die Angst in erster Linie als eine physische Reaktion. Er siedelte sie im Bereich der körperlichen Empfindungen an und kommt bei ihm „in der Seele“ nicht vor.

Die Glücks-Philosophie der Stoa unterschied die Unlust am Gegenwärtigen - Ärger, von der Unlust an Bevorstehendem - Furcht und strebte an, diese zu überwinden.


4. Jahrhundert v. Chr.


Der griechische Arzt Hippokrates erklärte pathologische Angst käme von plötzlichem Ausfluss von schwarzer Galle in das Gehirn. Dieses biologische und medizinische Problem rufe beim Menschen Angst hervor.

"Angst und Schrecken in der Nacht wie am Tage, Schlaflosigkeit, Missgriffe, Irrtümer, unangebrachte Sorgen, mangelnde Einsicht in die tatsächliche Lage und Handeln wider die Gewohnheit - alles das kommt über uns vom Gehirn her, wenn es nicht gesund, sondern wärmer oder kälter, feuchter oder trockener als normal ist."

Er war der Meinung, die Angst ließe sich behandeln indem man die Körpersäfte mit Diät oder mit Nieswurz wieder ins Gleichgewicht bringe.

Platon dagegen betrachtete die Psyche und Angst vom Körper unabhängig. Für die Heilung bräuchte es tiefe Selbsterkenntnis und größere Selbstbeherrschung. Ebenso sei eine von der Philosophie geleitete Lebensweise notwendig.


4. Jahrhundert v.Chr. – 17. Jahrhundert


In dieser Zeit prägten besonders die verschiedenen Religionen den Begriff Angst.
Sie versprachen die Befreiung von der Angst wenn man nur das „Richtige“ glaube und danach handele.

„In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden." Johannes-Evangelium (16,33)

Andererseits schürte die Kirche auch die Angst mit der Verbreitung des Glaubens an die Strafe Gottes oder der Androhung der Hölle.

Auch im Buddhismus gibt es den edlen 8-fachen Pfad zur Befreiung aus Angst und Leid und die Androhung der Reinkarnation.



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17. Jahrhundert


Der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza bezeichnete die Angst als reines Logikproblem. Das geistige Unvermögen sei schuld, dass wir Dinge die sich unserer Kontrolle entziehen fürchten.

„Furcht ist eine unbeständige Traurigkeit, entsprungen aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, über dessen Ausgang wir in gewisser Hinsicht zweifelhaft sind.“ [3]

Spinoza gilt als einer der radikalsten Philosophen und Begründer der modernen Bibelkritik.


Mitte des 19. Jahrhundert


Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard nahm die Angst als ein spirituelles und philosophisches Problem wahr. Für ihn ist die Angst nur eine geistige Erscheinung. Er sah sie als Anhaltspunkt des menschlichen Denkens und der Willensfreiheit.

Trotzdem erhoffte er sich die Überwindung der Angst ebenfalls im Glauben.
Die von ihm inspirierte Existenzphilosophie akzeptierte allerdings die Weltlichkeit des Menschen, ohne dass es die Angst zu überwinden galt.

1844 schrieb er in seinem Buch „Begriff der Angst“:

„Kein Großinquisitor hat so entsetzliche Folter in Bereitschaft wie die Angst;
Kein Spion weiß so geschickt den Verdächtigen gerade in dem Augenblick anzugehen, in dem er am schwächsten ist, oder weiß die Schlinge, in die er gefangen werden soll, so bestrickend zu legen, wie die Angst es weiß.“


Der britische Naturforscher Charles Darwin (1809-1882) litt selbst unter einer Angststörung. Durch seine eigenen Erfahrungen - wie z.B. einer Situation im Zoo, bei der er sich vor einer Schlange ängstigte – schließt er darauf, dass bestimmte Ängste nicht durch negative Erfahrungen entstehen, sondern automatische, körperliche Reaktionen sind.

“Mein Wille und mein Verstand waren kraftlos gegen die Einbildung einer Gefahr, welche niemals direkt erfahren worden war.“

Die theoretische Grundlage für die heutige neurobiologische Erforschung von Angstzuständen basiert auf seinen Erkenntnissen.


20. Jahrhundert


1919 entwickelt Walter Cannon Darwins Vorstellung einer Stressreaktion weiter und bezeichnet diese als „Fight or Flight“-Reaktion. [1]

Als Erster dokumentiert er in seinen Tierversuchen, dass bei dieser Reaktion Blut in die Skelettmuskulatur gepumpt wird um für Flucht oder Kampf gewappnet zu sein.

Er wollte die Hintergründe der häufig auftretenden Posttraumtischen Belastungsstörung bei Soldaten während und nach dem Ersten Weltkrieg wissenschaftlich erforschen. [4]

In der Neuzeit spielte die Angst als physiologisches Thema kaum noch eine Rolle.

Für Jean-Paul Sartre war die Angst eine Qualität unseres Bewusstseins als Vorbedingung der Freiheit, zu der der Mensch verurteilt sei.

Er begriff Angst nicht als Übel, sondern als Engagement, dass den Menschen auch zu seinem „eigentlichen Sein“ führen kann.

Martin Heidegger, für den sich das Dasein vor einem Nicht-Sein ängstigt und das „Sein zum Tode“ gefasst wird, bezeichnete den Grund für Angst als prinzipielle Ungewissheit des Gelingens.

Existenziell entsteht Angst aus dem gewähnten Verlust der Einheit mit Allem, gefolgt vom Selbst- und Todesbewusstsein. Fluchtreaktionen wie Religion, Sucht oder Anhäufung von Besitz sind Folgen des Nichtaushaltens dieser Angst.



Naturgeschichtliche Entwicklung der Angst

Der Angstvolle Kampf ums Dasein


1868 sagte Jakob Burckhardt in seiner Vorlesung „Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte“:

„Die Naturgeschichte zeigt uns einen angstvollen Kampf ums Dasein, und dieser nämliche Kampf erstreckt sich weit in Völkerleben und Geschichte hinein“

Ohne Angst und Vermeidung hätte die Entwicklung des Lebens und der menschlichen Kultur nicht in dem Maße stattgefunden.



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Die Gefahr in Gestalt wilder Tiere tritt in unserer Zivilisation nicht mehr häufig auf. Mit unserem Drang die Natur zu unterwerfen haben wir uns allerdings neue Gefahren entworfen, mit denen wir unsere Angst füttern können.

Die Zerstörung der Erde, Waffenproduktion und Atomkraftwerke sind für uns nicht wirklich als Gefahr wahrnehmbar, weil wir sie in unserem naiven Denken als kontrollierbar ansehen.
Sie erscheinen uns, haben wir uns doch auch die wilde Natur zu Nutze gemacht, beherrschbar.

Es könnte als zweifelhafter Fortschritt wahrgenommen werden, dass wir es gegenüber dem Tier geschafft haben die Bedingungen für die Entstehung von Furcht zu verringern. Der Österreicher Irenäus Eibl-Eibesfeldt konstatierte:

„Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht der Mensch das furchtsamste Wesen ist, da zur elementaren Überlebensangst noch intellektuell produzierte Existenzängste hinzukommen.“

Als Zoologe, Evolutionsbiologe, Verhaltensforscher und Gründer des Fachs Humanethologie, erforschte er intensiv das tierische und menschliche Verhalten.


Die Ambivalenz von Angst und Furcht


In seinem Buch schrieb Joseph LeDoux:

„Die Fähigkeit, rasch Erinnerungen von Reizen zu bilden, die mit Gefahren zusammenhängen, sie lange zu behalten und sie automatisch zu nutzen, wenn künftig ähnliche Situationen auftreten, ist eine der mächtigsten und wirksamsten Lern- und Gedächtnisfunktionen des Gehirns.“

Er spricht aber auch davon, dass wir genau durch diese Leistung mehr Ängste haben, als notwendig wären. Hinzu kommt noch die ausgeprägte Fähigkeit uns Ängste auszumalen gepaart mit dem Unvermögen sie zu kontrollieren.

Die Ambivalenz von Angst und Furcht liegt auf der Hand.
Sie schützt uns vor Säbelzahntigern und ihr Fehlen wäre ein Grund sich zu fürchten.

Andererseits ist sie ein Werkzeug für Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Sie ist in der Lage in krankhaften Dimensionen Leben zu zerstören, wie es in der Weltgeschichte nicht erst einmal passiert ist. Selbst im täglichen Leben passiert dies ständig. Dadurch wird Angst und Furcht selbst zur Gefahr!

Bei Elias Canetti, dem Nobelpreisträger von 1981 heißt es:


„Es ist besser, die Angst auszusprechen als sich weiter mit ihr zu tragen. Am besten ist es, sie aufzuschreiben ohne sie auszusprechen.“



Die Reihe Angst unterm Mikroskop wird in weiteren Teilen auch noch die Physiologie und Psychologie der Angst bearbeiten.
Danke fürs Lesen! :)



Quellen:

http://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/angst/641
https://de.wikipedia.org/wiki/Angst
http://www.welt.de/angst/experten/133859703/
http://www.deutschlandfunkkultur.de/besessen-von-angst.1067.de.html?dram:article_id=175637

[1] Kampf-oder-Flucht-Reaktion. In: Lexikon der Biologie. Online-Ausgabe, abgerufen am 15. November 2017.
[2] Charles D. Spielberger: Anxiety and Behavior New York 1966
[3] Spinoza, Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt (Ethica Ordine Geometrico Demonstrata), verfasst 1665, posthum veröffentlicht 1677
[4] Walter B. Cannon: Wut, Hunger, Angst und Schmerz: eine Physiologie der Emotionen. Aus d. Engl. übers. von Helmut Junker. Hrsg. von Thure von Uexküll. Urban und Schwarzenberg, München / Berlin / Wien 1975. Erste engl. Ausgabe 1915

Fotos:

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