Scrabbling all over the world

Scrabbling all over the world

„NO“, schlug es wie eine Welle durch die Ebene. Ich lag auf dem Rücken und staunte in den Himmel über mir, der flach wie eine Buchseite schien und zahllose Muster aus Silben, Wörtern, Wortfetzen, Einzelbuchstaben und sinnlosen Buchstabengruppen zeigte. Den Kopf heben konnte ich nicht, auch keinen der Arme oder eines meiner Beine. Keine Schwerkraft presste mich nieder, sondern ein geheimnisvolles Manuskript, genannt Die Regeln. Deren zweidimensionale Kraft zwang mich in Quadrate innerhalb eines Quadrates, in Kombinatorik innerhalb eines Wörterbuchs, in unmittelbare Anschlüsse an bereits verursachte Spuren.

„NO“, ritzte ich in die Fläche dieses Brettes. Kürzer, nachhaltiger war es nicht sagbar. Eine Welle des Widerstandes gegen kunstvolle Ketten, gegen Wortgedrechsel, gegen Gebeuge und Geforme, gegen Vertikalismus und gegen Horizontalismus. Wie war ich nur hierher gekommen? Weshalb diese Einbettung in eine Scheibenwelt, die so gar nicht meinem geliebten Schachbrett gleicht?

Stell dir vor, du hast die folgenden Buchstaben auf dich niederprasseln lassen: Ä E E R T U V. Ein beliebiges Wort daraus – sagen wir: „vertäue“ – ergäbe im besten Fall und genau dann am meisten Punkte, wenn es von A1 nach G7 läge, nämlich diagonal. Aber genau das ist ja nicht Regel-konform! Wozu sich also die Mühe machen, das durchzurechnen? Diese Buchstaben haben einzelne Punkte als Wert, außer Ä und V, die zählen je 6 Punkte. Die letzten beiden, „u“ und „e“, kämen im Beispiel von „vertäue“, und das unregulierte Diagonale bleibt der beste Fall, auf einen Buchstabenwert-Verdreifacher und einen Buchstabenwert-Verdoppler. Damit erhielte das Wort insgesamt 20 Punkte. Nun kämen aber noch sage und schreibe vier Wortwertverdoppler und der Wortwertverdreifacher ins Spiel, also Faktor 24, das macht dann sagenhafte und marktschreiende 480 Punkte. Wäre das der beste Fall, oder was!

Da schreibe ich lieber ein Haiku mit „vertäue“. Viel lieber. Dabei kann ich atmen, trotz einiger Regeln. Ich brauche keinen Wortgenerator, denn ich arbeite nicht aus einer Buchstabensuppe heraus. Ich schwimme im Meer und vertäue meinen Text nicht an einem Kai. Vor der Vorstellung, wie Scrabble-Profis wohl trainieren, krampft sich mir das Hirn zu einer synaptischen Zellulose.

„NO“! Zwei Buchstaben, kleinstmögliches Wort, volles Programm. Kann ich mir vorstellen, wie Wittgenstein – egal ob „I“ oder „II“ – eine Kolumne über Scrabble schreibt? Klar, aber nicht für die ZEIT. Auch nicht in den RAUM oder für die WELT. Schon eher mit BILD. Dabei den Gedanken im FOCUS. Nicht sich selbst vor dem SPIEGEL. La lettre, das ist dem Franzosen auch der Brief, nicht nur der isolierte Buchstabe. La lettre au deux lettres – der Brief aus zwei Buchstaben, der wird Voltaire zugeschrieben: „J“ und „a“, und er dachte dabei nicht an ein deutsches Wort, sondern an ein französisches Alphabet und ein Souper.

Ich mag Pascals Dreieck und Primfaktorenzerlegungen, ein bisschen Sinn habe ich auch für Permutation und Kombinatorik, und da dachte ich, Scrabble könnte damit verwandt sein. So kam ich hin. Und dann vom Palindrom zum Aneurysma. Spätestens 2030.

Postscrabblum:


Spätestens 2030 wird scrabblY oder besser tyScrabb auf dem Markt sein, die lange erwartete ty-ty-Version von Scrabble. Darin gelten dann die Möglichkeiten der Diagonalen tatsächlich, und es wird insgesamt sechs mögliche Leserichtungen geben (nämlich jede auch gegenläufiger Weise). Das Brett wird schöne 16x16 Felder haben, jede/r wird sich zu Anfang 16 Buchstaben aus einem (der Idee nach) unbegrenzt großen Vorrat ziehen (das ist digital kein Problem), und es muss nur gezogen werden, wenn nicht ausgelegt werden kann (und es DARF immer gezogen werden, statt auszulegen, so lange nicht mehr als 16 Steine auf dem Bänkchen sind – etwa wie beim Kartenspiel Rommé). Weitere Möglichkeiten sind dann das Auslösen von Jokern durch passende Buchstaben, sofern der Joker im gleichen Spielzug wieder eingesetzt wird (er darf also nicht für spätere Verwendung zurück auf ein Bänkchen wandern, wenn er schon auf dem Brett gelegen hat), das sinnvolle Umlegen vorhandener Buchstaben, soweit nie mehr als zwei Wörter gleichzeitig dabei angefasst werden, und der Ringtausch aller Bänkchen gegen den Uhrzeigersinn, sobald auf dem Brett ein Wort-Quadrat entstanden ist oder ein Palindrom aus mehr als 5 Buchstaben. Zulässig sind dabei übrigens Wörter und deren Schreibweise nicht nur aus dem aktuellen Duden, sondern auch aus dem aktuellen Wahrig sowie aus dem Grimmschen Wörterbuch (1DWB, 1854 bis 1956). Ein großes „ß“ wird nicht enthalten sein, da es ausschließlich mit Kleinbuchstaben operiert. Ob seyn oder nicht sein, ist dann nicht mehr die Frage, und Punkte gibt es eh keine – gewonnen hat, wer als erste/r sein Bänkchen leer hat. Buchstaben- oder Wortvervielfacher braucht also keine/r im tyScrabb. Dafür kann man dann aber schon mal einen verzwunzenen Uzvogel kennen lernen.

Last not least noch die Anmerkung, dass es für ein „Bingo“ (welches im tyScrabb entfallen wird) weitere 50 Punkte gibt zu den obigen 480 – summa scrabblarum 530 Punkte.

Zuallerhinterletzt hier die klassisch Regel-konforme Erst-Auslage von „vertäue“: Es gibt mehrere hoch dotierte Möglichkeiten, die alle darauf hinauslaufen, möglichst einen Buchstabenvervielfacher für „ä“ oder „v“ sowie einen Wortvervielfacher abzustauben. Ich denke, ein Buchstabenverdoppler und ein Wortverdreifacher sind das Maximum des Erreichbaren, zB H1 – N1. Das bringt 17 Punkte für das Wort plus 6 weitere für das verdoppelte „ä“ – multikultipliziert mit 3 ergibt das 69 Punkte, zu denen die „Bingo“-Prämie noch dazu kommt, scrabbla summarum 119 Punkte. (Zufällig ist der, nach hebräischer Zählung, 119. Psalm der längste aller biblischen Psalmen, und er beginnt mit den Worten „Wohl denen, deren Weg ohne Tadel ist“ und endet kurz nach dem Satz „Ich bin verirrt wie ein verlorenes Schaf“. Hier zitiert nach der Einheizybersezzung.)

Sind alle Fragen hinreichend beantwortet bzw. via absurdum ad astra geführt?

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