Versöhnung und Verführung in der Kunst

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Der ursprüngliche Zweck der Kunst war es, die Einheit zwischen den Menschen und ihrer Umwelt wiederherzustellen. Doch heute erleben wir viel häufiger, wie Kunst uns dazu manipuliert, einen neuen Glauben anzunehmen. Da sie dafür jedoch auf die Symbole unseres gemeinsamen evolutionären Gedächtnisses zugreifen muss, beschwört sie gerade den Ritus, der uns als Gemeinschaft zusammenhalten soll. Wie gut es einem Künstler gelingt, die Menschen mit seinem Werk wieder miteinander zu verbinden, ist möglicherweise ein entscheidendes Kriterium für echte Kunst.

Kunst beginnt dort, wo Worte fehlen, Menschen aber trotzdem ihr Bedürfnis nach Verständigung und Eintracht stillen möchten. Das geht über Rhythmus, Bewegung, Tanz, Musik und natürlich: darstellende Kunst. Eine ihrer frühesten Formen ist die Höhlenmalerei. Ihr Zweck bzw. ihre Bedeutung lässt sich nicht eindeutig bestimmen, da sie parallel an unterschiedlichen Orten auf der Erde erschien und sicher mehrere Funktionen erfüllte. Sicher ist jedoch, dass sie immer in Verbindung mit Riten wie z.B. Initationsriten stand.

Zu einer Zeit, in der noch ein lebendiger Zusammenhang zwischen Kunst, Handwerk, Landwirtschaft und Astrologie herrschte, erfüllten sie eine wichtige Aufgabe: Immer dort, wo die Einheit aller mit allem aufbrach oder gestört wurde, sollten Riten sie wiederherstellen. Dies war kein religiöser Selbstzweck, sondern diente dem Überleben der Gruppe. Da der Mensch sich selbst nur als Teil von etwas Größerem, dem Natur- und Geisterreich, verstand, konnte er diese Einheit nicht verletzen, ohne auch seine eigene Existenz zu gefährden.

Erlegte ein Jäger ein Tier, verwundete er folglich auch die Einheit, aus der das Tier - und letztlich auch er selbst - kam. Daher betete er vor der Jagd zum Geist des Tieres und bat dabei um seine Verzeihung sowie um seine Zustimmung, getötet zu werden. Der Jäger nahm sich nicht einfach, was er gerade brauchte, sondern setzte darauf, dass das Tier seinen Leib als Nahrung anbot, während sein Geist ins Geisterreich zurückkehrte. Mit Hilfe der Rituale beglichen die Jäger bereits vor dem Töten des Tieres die Schuld, die sie auf sich nehmen würden.

Zeugnis für ein solches Ritual ist eine Höhlenmalerei aus dem Jungpaläolithikum (Jungsteinzeit). Darauf befinden sich ein Bison und anderes Jagdwild, denen ein Speer eine Wunde zugefügt hat, neben der Vulva eines weiblichen Tieres. Die Intention des Bildes: So wie die Vulva der Frau sich durch Blutung selbst reinigen kann, soll es auch die Wunde des Tieres tun. Mit dem Nebeneinander beider Darstellungen wird neues Leben bzw. der Kreislauf des Lebens beschworen. (Monica Sjöö/Barbara Mor: The Great Cosmic Mother. San Francisco. 1987, 81)

Dieses Bild und das mit ihm verbundene Ritual erfährt in den Kreuzigungsdarstellungen des Mittelalters eine Bedeutungsverschiebung. Ein heiliger Mann namens Jesus Christus hat plötzlich die Kraft, sich über das irdische Leben hinwegzusetzen, denn er besitzt wie die Tiere in der Höhlenzeichnung ‚heilige Wunden‘.

Die Kreuzigungsdarstellungen drücken das Bedürfnis aus, die Schuld, die durch Blutvergießen entsteht, auf symbolischem Wege zu begleichen. Allerdings schrieben die frühsteinzeitlichen Darstellungen die Fähigkeit, Leben wiederherzustellen, wo eines genommen wurde, ausschließlich der Frau zu. Die Kreuzigungsszenen können daher als Versuch gedeutet werden, einem Mann, und damit symbolisch allen Männern, die magischen Kräfte der Frau zu übertragen, damit dieser zum Schamanen, Messias oder Märtyrer werden kann.

Je weiter wir diesen Weg der Bedeutungsverschiebung gehen, desto weiter entfernen wir uns auch von dem ursprünglichen Zweck der Kunst, die Einheit zwischen den Menschen und ihrer Umwelt wiederherzustellen und nähern uns einer Kunst, die augenscheinlich nur noch manipulieren möchte.

Ein berühmtes Beispiel dafür ist Michael Jackson‘s Musikvideo zu Earth song. Jackson inszeniert sich darin als Christus am Kreuz. Besonders auffällig: seine sexualisierten Bewegungen im Szenenwechsel mit Phallussymbolen (Bäume, die sich aufrichten, Natur, die wiederhergestellt wird). Das Video spinnt das Thema der Schuld und ihrer Begleichung, das wir schon aus der Jungsteinzeit und dem Mittelalter kennen, weiter. Brisant daran ist, dass das Mittel zur Begleichung der Schuld und zur Wiederherstellung der Einheit die sexuelle Kraft sein soll, die von Jackson ausgeht.

Auch Zitate in Filmen (Matrix ist z.B. ein Film, der häufig zitiert wird.) oder die bloße Übernahme von Kameraeinstellungen und Settings aus Matrix in Underworld sind Belege für die manipulierende Macht der Medien. Ebenfalls sehr beliebt ist die Verwendung des Monomythos wie es J. J. Abrams 2015 wieder in Star Wars Episode VII anhand der Protagonistin Rey gezeigt hat. Nicht zu vergessen auch die Verwendung von Archetypen in den Harry Potter-Filmen (z.B. Sirius Black als Harrys Mentor). Und es geht sogar noch einfacher, wie unterschwellige Botschaften auf Werbeplakaten zeigen. (Mike Christy: „Subliminal Images and Hidden Messages“
http://www.artistmike.com/Temp/SubliminalAd.html, 17.09.2017 (zit. 07.06.2016)

Die Übernahme der Kameraeinstellung oder anderer Details aus Matrix, das fortwährende Anknüpfen an den Monomythos in Homers Odyssee in den Star-Wars-Filmen und der Bezug auf Archetypen in Harry Potter profitieren davon, dass unser (evolutionäres) Gedächtnis so gut auf die Bezüge anspricht. Sie manipulieren - oder besser: verführen - uns aber auch dazu, zu glauben, die Bedeutung des Originals träfe auch auf sie zu.

Wir glauben, wir würden in Underworld dieselbe unheimliche, aber angenehme Erfahrung machen wie in Matrix, erleben mit Rey in Star Wars Episode VII wie es sich anfühlt, den Weg eines ‚echten‘ Helden zu gehen, oder sehen einen ,echten‘ Mentor in Sirius Black. Alle drei Beispiele erhöhen die Authentizität der Szene, nehmen aber eigentlich nur Bezug auf etwas, das in unserem Unterbewusstsein abgespeichert ist. Letztendlich bedienen sich alle derselben Technik, auch wenn sie diese immer wieder auf eine neue Art verwenden.

Wirkt Kunst heutzutage nur noch manipulierend? Als eine Macht, die uns dazu verführt, eine ursprüngliche Bedeutung mit einer neuen zu besetzen? Ohne Frage stehen Ihr versöhnender und ihr manipulierender Charakter häufig direkt nebeneinander. Denn dadurch, dass Kinofilme und andere Medien uns an unsere gemeinsamen, tief in unserer Psyche verankerten Symbole erinnern, wirken sie wie die Riten aus der Jungsteinzeit.

Aber vielleicht ist gerade das in Wahrheit eine großartige Errungenschaft. Indem jeder Einzelne sein Selbst wieder mit seinen Wurzeln verbindet, bzw. sich wieder in seine Umwelt integriert, kann sich auch die (gesamte) menschliche Gemeinschaft wieder mit ihr verbinden und erfährt eine Art Versöhnung.

Allerdings nur dort, wo beim Ausüben einer Kunst so viele natürliche Kräfte freigesetzt werden, dass das entstehende Kunstwerk über sich selbst ‚hinauswachsen‘ kann. Das ist beispielsweise James Brown gelungen, als er 24 Stunden nach der Ermordung Martin Luther Kings bei einem Konzert die ‚Macht‘ und Ausstrahlung besaß, die Massen zu besänftigen und sie von einem Aufstand abzuhalten. (History.com Staff: James Brown calms Boston following the King assassination
http://www.history.com/this-day-in-history/james-brown-calms-boston-following-the-king-assassination, 17.09.2017 (zit. 07.06.2016)

Ob man modernen Kinofilmen diese Fähigkeit ebenso zusprechen kann, ist äußerst fraglich, da sie dieselbe Geschichte einfach immer wiederholen. Etwa so wie bei einem Song, der so oft gecovered wurde, dass fast niemand mehr das Original kennt. Es gibt eben einen entscheidenden Unterschied zwischen bloßem Handwerk, in dem eine Idee immer nur vervielfacht wird, und echter Kunst. Echte Kunst bietet ihren Betrachtern einen Weg aus der Entfremdung. Kinofilme sind dazu zwar prinzipiell auch in der Lage, führen aber nicht zu einer echten, sondern immer nur kurzzeitigen Verbindung zwischen den Menschen.

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