28. August 2018
Kurz nach meiner eigenen Veröffentlichung zum Thema [1] bin ich auf Gespräch des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders Phoenix mit dem Politikwissenschafter Professor Werner Josef Patzelt gestossen [2]. Dieses wurde bislang mehrheitlich negativ bewertet, obwohl ich die Einschätzungen des Professors für gut nachvollziehbar, fundiert und mitnichten übermässig politisch korrekt halte. Seine Einschätzungen sind sprachlich selbstverständlich so gehalten, dass sie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu zeigen sind. Denn Herr Patzelt möchte bestimmt weiterhin als geschätzter Experte wahrgenommen und gezeigt werden, nicht als Aktivist, der sich möglichst politisch unkorrekt geben oder mit steilen Thesen auffallen möchte.
Stand 28. August 2018 14:44 Uhr weist das Gespräch 298 (28 %) positive und 764 (72 %) negative Bewertungen auf. Professor Patzelt habe ich bereits vor zwei Wochen einiges an Aufmerksamkeit geschenkt und ein Gespräch mit ihm und einem sächsischen lokalen Fernsehsender transkribiert [3].
(0:01) - Michael Kolz (Moderator bei Phoenix, Politikwissenschafter und Journalist [4])
In Dresden begrüsse ich ganz herzlich den Politikwissenschafter Professor Werner Patzelt. Schönen guten Abend nach Dresden!
(0:07) - Prof. Werner Patzelt
Guten Abend!
(0:08) - Michael Kolz
Professor Patzelt. Hat Sie die heftige Reaktion auf der Strasse nach dieser Bluttat überrascht?
(0:13) - Prof. Werner Patzelt
Sie hat mich nicht sonderlich überrascht. Denn es gibt in Sachsen eine leidige Tradition des heftigen, auch von überschäumenden Emotionen getragenen Protestierens. Es verbreiten sich dann auch Gerüchte sehr schnell und wenn die Gerüchte darauf hinauslaufen, dass sich Leute, die aus dem Ausland schutzsuchend nach Deutschland gekommen sind, in Gewalttaten auch gegen Deutsche verwickeln lassen, dann kocht der Volkszorn. Ob zu Recht oder zu Unrecht bleibt aufzuklären. Klarzustellen ist dann seitens Politik und Polizei, dass es so etwas wie Selbstjustiz, kollektive Schuld und Angriffe auf alle die anders aussehen als die länger schon im Lande Lebenden nicht geben darf.
(0:58) - Michael Kolz
Blicken wir mal auf das Phänomen, das Sie zu Recht angesprochen haben, dass es schon seit geraumer Zeit so ist (wohl mit dem emotionsgetriebenen Protest - Anm.). Ist und bleibt das ein ostdeutsches, gegebenenfalls sogar ein sächsisches Problem? Hat sich das verstärkt oder verringert? Wie sehen Sie da die Veränderungen?
(1:14) - Prof. Werner Patzelt
Viele in Ostdeutschland empfinden, dass ihnen so manches aus dem Westen auch gegen offenkundigen Widerstand aufgezwungen wurde. Vom Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nach der Wiedervereinigung über westdeutsche Politik- und Kultureliten bis hin zu dieser Migration, die dann die grossen Demonstrationen und die grossen Wahlerfolge der AfD im Jahr 2016 auslöste (in Mitteldeutschland wurde 2016 in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt gewählt - Anm.). Und das Ganze ist dann eine sich selbst bestätigende Kette von Ereignissen. Es taucht dann das trotzig-selbstzufriedene Gefühl auf: "Wir haben immer schon Recht gehabt und nun zeigt die Wirklichkeit, dass es verkehrt war uns einfach von phobischen Gefühlen beseelt darzustellen, uns nicht ernst zu nehmen und die Probleme schleifen zu lassen!" Dieser Prozess, der sich selbst bestärkt, der hat in Chemnitz wieder einen neuen Auslauf und Höhepunkt gefunden. Zu befürchten ist, dass das nicht das letzte Mal gewesen sein wird.
(2:12) - Michael Kolz
Zur Wahl gehört aber auch, dass bei Umfragen immer wieder bestätigt wird, dass es den Deutschen besser geht als jemals zuvor. Das Land steht ja nicht nur wirtschaftlich glänzend da - die Arbeitsmarktdaten stimmen. Was läuft da in der Kommunikation falsch? Warum kommt dies nicht bei den Menschen an oder nehmen sie es anders wahr? (bezüglich Arbeitsmarktdaten, Vermögensaufbau, Wohlstand, Eigentumsgarantie und Sicherheit von Vorsorgemöglichkeiten etc. gibt es sehr weit auseinandergehende Einschätzungen, von sehr positiv zu äusserst negativ - Anm.)
(2:28) - Prof. Werner Patzelt
Es kommt bei den Leuten schon an. Der Zorn nährt sich nicht aus persönlicher, wirtschaftlicher Not. Sondern das Grundgefühl ist, dass vieles, das auch durch grosse eigene Anstrengungen miterreicht wurde, jetzt gefährdet ist. Es wirkt so, dass ein Land, in dem man gut und gerne leben will und dieses Land immer schöner und besser zu machen lange Zeit gemeinsame Ziel gewesen ist, nun einen anderen Akzent aufgeprägt bekommt. Einen Akzent, in dem man sich unsicher fühlt, sich Sorgen um die Zukunft macht und um die weitere Finanzierbarkeit der Sozialsysteme. Es ist also kurzum gesagt nicht Unzufriedenheit mit der Gegenwart, sondern Sorge um die Zukunft. Und es ist Ärger über all jene, die man zu Recht oder zu Unrecht zuschreibt, die Zukunft dieses Landes zu riskieren. Erste wenn man diesen grösseren Verursachungszusammenhang mit auf dem Schirm hat, wird man begreifen, dass Zurechtweisungen und Warnungen einfach nicht ausreichen, um diese Dynamik, diese entsetzliche Dynamik in den kommenden Monaten und Jahren in den Griff zu bekommen.
(3:33) - Michael Kolz
Haben Sie den Eindruck, dass da überhaupt noch etwas zu retten ist? Ist der Zug nicht eigentlich schon ein Stück weit abgefahren? Bei denen, die jetzt demonstrieren, hat man nicht den Eindruck, dass man die je wieder zurückholen kann.
Anmerkung: Zurückholen geht eigentlich fast immer, steigt der Preis dafür mit der Zeit, bis man auf die geäusserten Bedürfnisse reagiert, an. Am Anfang mit einer geringen Minderheit, die protestiert, kann man vielleicht mit einem ziemlich kaputten Kuhhandel eine Übereinkunft erzielen. Sind erst einmal viele tausend Menschen in Proteststimmung und auf der Strasse, wird es ohne grössere Zugeständnisse sehr schwierig. Gar nicht zurückholen wollen kann in einer Mehrheitsgesellschaft, die viel Wert auf Konsens legt, das ist in Deutschland der Fall, kaum eine echte Option sein.
(3:45) - Prof. Werner Patzelt
Ich bin im Laufe der letzten Monate und Jahre immer skeptischer geworden. Am Anfang hätte man durch demonstratives Angehen und Lösen der Probleme den einen oder anderen von emotionalen, intellektuellen und moralischen Irrwegen wohl bewahren können. Aber inzwischen haben so viele diesem Gemeinwesen auf trotzige Weise innerlich gekündigt. Viele sind so auf der Erregungsspur und von dem Eindruck geradezu beseelt, dass man es immer wieder durch Demonstrationen zeigen müsse, dass das das eigene Land sei und man sich dieses und jenes nicht gefallen liesse. So dass ich allmählich wirklich fürchte, dass hier eine Bewegung in Gang gesetzt worden ist, die sich jetzt nur noch schwer, wenn überhaupt, aufhalten lässt.
(4:27) - Michael Kolz
Professor Patzelt, Sie haben die Parteien gehört und den Regierungssprecher. Insbesondere vorne auch die Alternative für Deutschland, die sich von der Gewalt auf der Strasse distanziert, wohlgleich aber in einigen Bereichen Verständnis für die Wut der Bürger äussert. Inwieweit ist das Wasser auf die Mühlen derer, die ohnehin ein Problem mit Migration und Integration haben?
(4:47) - Prof. Werner Patzelt
Zunächst einmal ist es gut, dass alle politischen Parteien, die sich geäussert haben, Gewalttätigkeit, Selbstjustiz und alles, was furchtbar hässlich und inhuman in Chemnitz gewesen ist, scharf verurteilen. Es fällt aber schon auf, was beschwiegen wird. Beschwiegen wird eine mögliche Antwort auf die Frage, ob es nicht Anschlussprobleme unserer Migrations- und Integrationspolitik gibt, die eben immer wieder in solchen und anderen Szenen aufbrechen werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Die praktische Frage lautet: Wie verbessern wir die Integration von zu uns Gekommenen in unserer Gesellschaft? Wie schaffen wir es, dass jenes erreichte Niveau an Zivilität, dessen wir uns jahrzehntelang rühmen konnten, wieder zur alltagspraktischen Selbstverständlichkeit wird und dass es weder auf der Strasse zu Messerstechereien, noch zu Jagdszenen wie in Chemnitz kommt? Wie kommen wir dorthin? Das wäre das Thema, welches es zu erörtern gilt. Dass auf dem Weg dorthin eine Nichtbehandlung dieses Themas keine plausiblen Antworten auf diese Fragen liefert und somit Wasser auf die Mühlen von Rechtspopulisten darstellt, steht völlig ausser Zweifel.
Anmerkung: Wenigstens bei den Gewalttaten, bei denen Messer mit im Spiel sind, weist der Trend wohl in die Richtung Zunahme der Straftaten, es gibt dazu einige Medienmitteilungen und Artikel [5-7]. Auch wenn es all jenen, die die Folgen der unkontrollierten Einwanderung mantrenmässig schönreden oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen, nicht gefällt, sind bei Straftaten mit Messern kaum je ethnisch Deutsche die Tatverdächtigen. Die Frage lautet auch nicht nur, wie die Integration der Zugewanderten zu verbessern ist, sondern auch wie man den Anliegen jener, die mittlerweile spontan auf die Strassen zu gehen bereit sind, Rechnung tragen wird. Es dürfte nicht gänzlich einfach werden, wenn es dereinst so sein wird, dass kein einzelnes negative Auffallen eines Zugewanderten mehr ohne öffentlichen Protest geduldet werden wird und die Forderung schlussendlich die sein wird und mit entsprechendem Gewicht geäussert wird, dass die Politik jede einzelne dieser Taten im Vorfeld zu verhindern hat, weil sie für die Einreise dieser Menschen verantwortlich ist.
(5:56) - Michael Kolz
Offensichtlich hat die Politik, die sich schon etwas länger mit der Frage beschäftigt... (etwas verpasst? - Anm.) Es ist auch nicht das erste Mal, dass darüber diskutiert wird, ob Migration und Integration in diesem Land schief gelaufen sind. Es scheint kein Allheilmittel zu geben. Wo sehen Sie gerade beispielsweise in Sachsen die Defizite?
(6:14) - Prof. Werner Patzelt
Die Defizite bestehen etwa darin, dass man den Leuten einfach gesagt hat, dass es erstens Migration gibt. Die Flüchtlinge sind da, dagegen könne man nichts tun und müsse sie einfach unterbringen. Zweitens hat man den Leuten gesagt, dass es auch gar nicht schlimm werden wird. Denn jene, die kommen, seien gut ausgebildet, bereichern den Arbeitsmarkt, machen unsere Gesellschaft einfach bunt und schön. Da fühlten sich viele Leute sozusagen im Zweifel, ob das denn wirklich so wäre und sie fühlen sich jetzt von der Politik getäuscht, um schlimmere Wörter zu vermeiden. Das Ganze hat zur weiteren Spaltung unserer Gesellschaft und zu dieser grossen auch emotionalen Polarisierung beigetragen, in der ein vernünftiger Diskurs über so wichtige Themen wie Migration und Integration zunehmend schwieriger wird. Das ist eine Lage, welche die Leute in Sachsen insbesondere deswegen besonders aufregt, weil von hier aus sozusagen die ersten Warnsignale ergangen sind, dass man mit einem laisser-faire und der Aussage, dass schon alles gut werde, eine so gigantisch folgenreiche Politik besser nicht betreiben sollte.
(7:14) - Michael Kolz
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre deutlichen Worte, Professor Werner Patzelt, nach Dresden.
[1] Politik 092 - Kommentar zu den Ereignissen in Chemnitz. @saamychristen, 28. August 2018 @saamychristen/politik-092-kommentar-zu-den-ereignissen-in-chemnitz
[2] Prof. Werner Patzelt zu den Ausschreitungen in Chemnitz am 27.08.18. phoenix YouTube Kanal, 28. August 2018
[3] Politik 089-090 - Neue Einschätzungen von Prof. Werner Patzelt - 2 Teile. @saamychristen, 15. August 2018 Teil 1: @saamychristen/politik-089-neue-einschaetzungen-von-prof-werner-patzelt-1-2 Teil 2: @saamychristen/politik-090-neue-einschaetzungen-von-prof-werner-patzelt-2-2
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Kolz
[5] Deutschland: Immer mehr Messerangriffe. Gatestone Institute, 26. November 2017, von Soeren Kern https://de.gatestoneinstitute.org/11444/deutschland-messerangriffe
[6] Messergewalt ist ein echtes Problem in Deutschland – und wir alle haben Schuld daran. Huffington Post, 20. März 2018, von Sebastian Christ https://www.huffingtonpost.de/entry/messergewalt-ist-ein-echtes-problem-in-deutschland-und-wir-alle-haben-schuld-daran_de_5ab10f6be4b00549ac7f6196
[7] SPD fordert amtliche Stichwaffen-Erfassung - 572 Messerattacken in sechs Monaten in NRW. Bild.de, 16. März 2018, von A. Wegener und P. Poensgen https://www.bild.de/regional/duesseldorf/messer/messer-angriffe-statistik-nrw-55114546.bild.html
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